Die Geschichte Israels

von Stefan Meißner

19. Die Apokalyptik


Daniel in der Löwengrube

Im AT gibt es eigentlich nur ein Buch, das man in seiner Gänze als apokalyptisch bezeichnen kann: Das Danielbuch. Darüber hinaus gibt aber noch in einigen anderen Büchern apokalyptisch gefärbte Passagen (Ez 38-39; Jes 24-27; Sach 9-11;12-14). Wegen der Bedeutung der Apokalyptik für die jüdische Literatur „zwischen den Testamenten“ sind hier doch einige Überlegungen zu diesem religiösen Phänomen angebracht.

19.1 „Apokalyptik” und “Apokalypse”

Um eine Sprachverwirrung zu vermeiden, unterscheidet man in der neueren Forschung terminologisch zwischen „Apokalyptik“ und „Apokalypse“. Bei der “Apokalyptik” handelt es sich um ein breiteres religiöses Phänomen, das literarische, soziale und theologische Aspekte umfasst. Das Wort “Apokalypse” hingegen ist die Bezeichnung für ein literarisches Genre, das nicht notwendig in Verbindung steht zur Apokalyptik.
Als formal-literarische Eigenschaften einer Apokalypse gelten: Pseudonyme Verfasserschaft, Verbindung von Paränesen und Ich-Erzählungen (Visionen, Auditionen, Himmelsreisen), Datumsangaben, Angaben über den seelischen Zustand des Apokalyptikers, sowie die Verwendung von Bilder- u. Symbolsprache.
Es gibt aber auch inhaltliche Merkmale dieses Genres nämlich die Erwartung des nahen Endes (meist als kosmische Katastrophe), verbunden mit einem Rückblick auf die bisherige Geschichte. Dieser kann übergehen in prophetische Zukunftsweissagungen, Erwartung einer neuen Weltzeit. Typisch sind auch die Erwartung einer eschatologischen Totenauferstehung, Determinismus und Pessimismus im Blick auf das Geschichtsdenken, außerdem ein großes Interesse an Engeln und Dämonen.

19.2 Die Trägerkreise der Apokalyptik

Man vermutet, dass ein Großteil der apokalyptischen Literatur auf die „Asidäer“ (von hebr.: „Chassidim“ = Fromme) zurück gehen, aus denen vermutlich später die Pharisäer und die Essener hervorgingen. Diese Gruppierung stellt ein Sammelbecken der toratreuen jüdischen Opposition gegen die hellenistische Reform z.Z. des Antiochus IV. Epiphanes (175-170) dar. Während diese „Frommen“ anfangs eine Koalition mit den Makkabäern gegen die Seleukiden eingingen (vgl. 1 Makk 2,42; 2 Makk 14,3ff. Tiervision d. äthHen), kam es später zu einer Trennung von ihnen. Die Gründe dafür sind wohl in der streng theozentrischen Haltung der Asidäer (vgl. Dan 2,34.45; 8,25: "..ohne Zutun von Menschenhand") zu suchen, die dem aktiven politischen Handeln der Makkabäer keine positive Relevanz zubilligen konnten (Dan 11,34: "eine kleine Hilfe"). Dokumentiert wird ihr ethischer Rigorismus durch ihre Ablehnung, am Sabbat zu kämpfen (1 Makk 2,29ff.).
Die Distanz zu den Makkabäern schlug in offene Polemik um, als sich diese seit Jonathan von charismatischen Volksführern zu wendigen Realpolitikern wandelten, die sich aus Machtkalkül zunehmend den anfangs bekämpften hellenistischen Einflüssen öffneten und (142 v. Chr. unter Simon) neben dem Königstitel auch die Hohepriesterwürde für sich in Anspruch nahmen. Das Zerbrechen der antihellenistischen Koalition beförderte ein sezessionistisches Selbstbewusstsein, das sich in einer Individualisierung der Frömmigkeit und einer Abwertung der heilsgeschichtlichen Traditionen Israels äußerte.

Die Assidäer-Hypothese ist freilich nicht unumstritten. Folgende Widersprüche wurden registriert: Nach den Makkabäerbüchern sind die Asidäer (jedenfalls zum Zeitpunkt der vermuteten Entstehung von Dan) Krieger, das Danielbuch selbst vertritt jedoch einen pazifistischen Standpunkt. Weiterhin war die Apokalyptik eine Denkbewegung, deren Vertreter in den verschiedensten Einzelgruppen, aber auch bei den 'offiziellen‘ Vertretern Israels zu finden ist. Man darf also nicht nur in sozialen Unterströmungen nach Trägergruppen suchen. Schließlich sollte man damit rechnen, dass einzelne Autoren und nicht immer ganze Gemeinschaften (schon gar nicht "Sekten") für bestimmte apokalyptische Schriften verantwortlich sein können.

19.3 Die sozialen Merkmale apokalyptischer Bewegungen

Die Erforschung moderner milleniaristischer Gruppen (beispielsweise in Melanesien und Amerika) lässt vielleicht Rückschlüsse auf die jüdische Apokalyptik zu, die selbst kaum etwas über die Trägerkreise zu erkennen gibt. Für diese Analogien ist typisch:
Das Hoffen auf eine endgültige Wende in der Geschichte, als Rückkehr zu einem idealen Urzustand ("Paradies"). Es gibt einen Führer apokalyptischer Bewegungen, die die Werte und Ideale der Gruppe verkörpern. Ein Gefühl des Ausgeschlossenseins von der Gesellschaft (Statusambivalenz ), das Gefühl auch, dass ihnen von der Gesellschaft etwas wichtiges vorenthalten wird (z.B. politische Macht, soziale Anerkennung, finanzielle Mittel). Die Ausbildung eines alternativen, kommunitären Sozialbewusstsein, teilweise (aber nicht zwingend) gibt es auch revolutionäre Tendenzen, sowie eine Vermischung von Religion und Politik.

19.4 Apokalyptik und Weisheit


Bei der Rückfrage nach den Wurzeln der Apokalyptik ist man in der Forschung verschiedenen Hinweisen nachgegangen. G. v. Rad vertritt in seiner Theologie des AT die These, "daß die apokalyptischen Schriften sowohl hinsichtlich ihrer Stoffe wie hinsichtlich ihrer Fragestellungen wie hinsichtlich ihrer Argumentation in den Überlieferungen der Weisheit wurzeln." Tatsächlich gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen Weisheit und Apokalyptik: So werden Apokalyptikern Titel wie "Schreiber" oder "Weiser" beilegelegt, die Legitimierung erfolgt oft durch Berufung auf alte Bücher (äthHen). Außerdem ist der Erkenntniswille nicht nur auf die Geschichte, sondern (wie in der Weisheit) auch auf den Bereich der Natur gerichtet.
Die deterministische Sicht, dass die weltgeschichtlichen Abläufe schon seit Urzeit feststehen, ist (nach G. v. Rad) Ausdruck eines Geschichtsverlustes, der den Propheten völlig fremd ist, die aber Analogien in der weisheitlichen Vorstellung hat, dass alles menschliche Tun "seine Zeit" hat.

19.5 Apokalyptik und Prophetie

Otto Plöger u.a. haben dieser These widersprochen. Der Ursprung der Apokalyptik sei in einem Kreis von Visionären zu suchen, der auf die Sammlung einer neuen Heilsgemeinde hoffte, zu der nur die Auserwählten des empirischen Israel gehören sollten (Tritojesaja, Jes 24-27, Sach 12-14). Mit ihrer Eschatologie habe diese Gruppe in einem Konflikt gestanden zur theokratisch eingestellten Jerusalemer Priesterschaft, die in der Wiedererrichtung des Tempels das endgültige Ziel der Heilsgeschichte gesehen haben (Theokratie u. Eschatologie). Die Übereinstimmungen zwischen Apokalyptik und Prophetie sind z.B. der Empfang von Offenbarungen durch Visionen und Auditionen, die zentrale Bedeutung von Gottes- und Messiasherrschaft, des Gerichts über Israel und die Völker, sowie die Rettung oder Zerstörung Jerusalems.
Freilich muss man mit einer Weiterentwicklung der Prophetie in der Apokalyptik rechnen. Das wird an mehreren Punkten deutlich:
Beide verkündigen den kommenden Gott, in der Apokalyptik ist aber der Bruch zwischen Gegenwart und Zukunft stärker als in der Prophetie. Beide sind in ihrer Botschaft ihrer Zeitsituation verhaftet, wenngleich die Apokalyptik diesen Zeitbezug oft in der Pseudonymität verbirgt. Doch finden sich bereits in den Prophetenbüchern Zusätze späterer Bearbeiter, die die Botschaft ihrer Vorgänger aufnahmen und umgestalteten. Darin spricht sich ein verändertes Traditionsverständnis aus: Das eigene Wort wird ausgesagt, indem man ein fremdes Wort auslegt. Das Thema der apokalyptischen Verkündigung ist die Zukunft, die in Visionen lebhafter ausgemalt wird als in der Prophetie. Apokalyptischer Geschichtsdeterminismus kann als Weiterführung der prophetische Auffassung von einem Weltenplan Gottes verstanden werden. In der Apokalyptik wird das Gerichts an Israel (und der Nachbarvölker) ausgeweitet auf alle Völker, ja den ganzen Kosmos. Man kann von einer Generalisierung des Historischen sprechen, das Individuelle gewinnt hier universalen Charakter.

19.6 Der apokalyptische Dualismus

Eines der wichtigsten inhaltlichen Charakteristika der Apokalyptik ist der Dualismus, der ein mehrfacher ist: Zunächst gibt es einen kosmischen Dualismus, bei dem die göttliche und die irdische Macht zu einander ausschließenden Größen werden. Dieser Zwiespalt ist oft Ausdruck der Diskrepanz zwischen autonom scheinender Weltmacht und dem Glauben an die Königsherrschaft Gottes.
Der Gegensatz zwischen Gottes- und Menschenherrschaft wird vorwiegend als zeitlich verstanden. Gegenwärtiger und kommender Äon stehen einander als grundverschiedene Epochen gegenüber. Doch kann an die Stelle des Gegensatzes von jetzt und einst auch der Kontrast von oben und unten treten. Im Himmel sind die künftigen Heilsgüter schon vorabgebildet. Wenn dem Zeitenwechsel die Gegenüberstellung von gut und böse entspricht, liegt ein ethischer Dualismus vor: Gott wird zunehmend das Gute vorbehalten, das Böse wird in einer persönlichen Macht, dem Satan, zusammengefasst. Hier scheinen persische Einflüsse auf das Judentum vorzuliegen. Das selbe gilt für die aufkommende Vorstellung von einer künftigen, individuellen Auferstehung der Toten. In Zeiten der Bedrängnis wird so der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Gott denen, die an ihn glauben, die Treue über den Tod hinaus bewährt.

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(C) Dr. Stefan Meißner: Straßburger Münster, Südportal- Mail: stefanmeissner@gmx.net