von Stefan Meißner
Daniel in der Löwengrube
Im AT gibt es eigentlich nur ein Buch, das man in seiner Gänze als apokalyptisch
bezeichnen kann: Das Danielbuch. Darüber hinaus gibt aber noch in einigen
anderen Büchern apokalyptisch gefärbte Passagen (Ez 38-39; Jes 24-27;
Sach 9-11;12-14). Wegen der Bedeutung der Apokalyptik für die jüdische
Literatur „zwischen den Testamenten“ sind hier doch einige Überlegungen
zu diesem religiösen Phänomen angebracht.
Um eine Sprachverwirrung zu vermeiden, unterscheidet man in der neueren Forschung
terminologisch zwischen „Apokalyptik“ und „Apokalypse“.
Bei der “Apokalyptik” handelt es sich um ein breiteres religiöses
Phänomen, das literarische, soziale und theologische Aspekte umfasst. Das
Wort “Apokalypse” hingegen ist die Bezeichnung für ein literarisches
Genre, das nicht notwendig in Verbindung steht zur Apokalyptik.
Als formal-literarische Eigenschaften einer Apokalypse gelten: Pseudonyme Verfasserschaft,
Verbindung von Paränesen und Ich-Erzählungen (Visionen, Auditionen,
Himmelsreisen), Datumsangaben, Angaben über den seelischen Zustand des
Apokalyptikers, sowie die Verwendung von Bilder- u. Symbolsprache.
Es gibt aber auch inhaltliche Merkmale dieses Genres nämlich die Erwartung
des nahen Endes (meist als kosmische Katastrophe), verbunden mit einem Rückblick
auf die bisherige Geschichte. Dieser kann übergehen in prophetische Zukunftsweissagungen,
Erwartung einer neuen Weltzeit. Typisch sind auch die Erwartung einer eschatologischen
Totenauferstehung, Determinismus und Pessimismus im Blick auf das Geschichtsdenken,
außerdem ein großes Interesse an Engeln und Dämonen.
Man vermutet, dass ein Großteil der apokalyptischen Literatur auf die
„Asidäer“ (von hebr.: „Chassidim“ = Fromme) zurück
gehen, aus denen vermutlich später die Pharisäer und die Essener hervorgingen.
Diese Gruppierung stellt ein Sammelbecken der toratreuen jüdischen Opposition
gegen die hellenistische Reform z.Z. des Antiochus
IV. Epiphanes (175-170) dar. Während diese „Frommen“ anfangs
eine Koalition mit den Makkabäern gegen die Seleukiden eingingen (vgl.
1 Makk 2,42; 2 Makk 14,3ff. Tiervision d. äthHen), kam es später zu
einer Trennung von ihnen. Die Gründe dafür sind wohl in der streng
theozentrischen Haltung der Asidäer (vgl. Dan 2,34.45; 8,25: "..ohne
Zutun von Menschenhand") zu suchen, die dem aktiven politischen Handeln
der Makkabäer keine positive Relevanz zubilligen konnten (Dan 11,34: "eine
kleine Hilfe"). Dokumentiert wird ihr ethischer Rigorismus durch ihre Ablehnung,
am Sabbat zu kämpfen (1 Makk 2,29ff.).
Die Distanz zu den Makkabäern schlug in offene Polemik um, als sich diese
seit Jonathan von charismatischen Volksführern zu wendigen Realpolitikern
wandelten, die sich aus Machtkalkül zunehmend den anfangs bekämpften
hellenistischen Einflüssen öffneten und (142 v. Chr. unter Simon)
neben dem Königstitel auch die Hohepriesterwürde für sich in
Anspruch nahmen. Das Zerbrechen der antihellenistischen Koalition beförderte
ein sezessionistisches Selbstbewusstsein, das sich in einer Individualisierung
der Frömmigkeit und einer Abwertung der heilsgeschichtlichen Traditionen
Israels äußerte.
Die Assidäer-Hypothese ist freilich nicht unumstritten. Folgende Widersprüche wurden registriert: Nach den Makkabäerbüchern sind die Asidäer (jedenfalls zum Zeitpunkt der vermuteten Entstehung von Dan) Krieger, das Danielbuch selbst vertritt jedoch einen pazifistischen Standpunkt. Weiterhin war die Apokalyptik eine Denkbewegung, deren Vertreter in den verschiedensten Einzelgruppen, aber auch bei den 'offiziellen‘ Vertretern Israels zu finden ist. Man darf also nicht nur in sozialen Unterströmungen nach Trägergruppen suchen. Schließlich sollte man damit rechnen, dass einzelne Autoren und nicht immer ganze Gemeinschaften (schon gar nicht "Sekten") für bestimmte apokalyptische Schriften verantwortlich sein können.
Die Erforschung moderner milleniaristischer Gruppen (beispielsweise in Melanesien
und Amerika) lässt vielleicht Rückschlüsse auf die jüdische
Apokalyptik zu, die selbst kaum etwas über die Trägerkreise zu erkennen
gibt. Für diese Analogien ist typisch:
Das Hoffen auf eine endgültige Wende in der Geschichte, als Rückkehr
zu einem idealen Urzustand ("Paradies"). Es gibt einen Führer
apokalyptischer Bewegungen, die die Werte und Ideale der Gruppe verkörpern.
Ein Gefühl des Ausgeschlossenseins von der Gesellschaft (Statusambivalenz
), das Gefühl auch, dass ihnen von der Gesellschaft etwas wichtiges vorenthalten
wird (z.B. politische Macht, soziale Anerkennung, finanzielle Mittel). Die Ausbildung
eines alternativen, kommunitären Sozialbewusstsein, teilweise (aber nicht
zwingend) gibt es auch revolutionäre Tendenzen, sowie eine Vermischung
von Religion und Politik.
Bei der Rückfrage nach den Wurzeln der Apokalyptik ist man in der Forschung
verschiedenen Hinweisen nachgegangen. G. v. Rad vertritt in seiner Theologie
des AT die These, "daß die apokalyptischen Schriften sowohl hinsichtlich
ihrer Stoffe wie hinsichtlich ihrer Fragestellungen wie hinsichtlich ihrer Argumentation
in den Überlieferungen der Weisheit wurzeln." Tatsächlich gibt
es eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen Weisheit und Apokalyptik:
So werden Apokalyptikern Titel wie "Schreiber" oder "Weiser"
beilegelegt, die Legitimierung erfolgt oft durch Berufung auf alte Bücher
(äthHen). Außerdem ist der Erkenntniswille nicht nur auf die Geschichte,
sondern (wie in der Weisheit) auch auf den Bereich der Natur gerichtet.
Die deterministische Sicht, dass die weltgeschichtlichen Abläufe schon
seit Urzeit feststehen, ist (nach G. v. Rad) Ausdruck eines Geschichtsverlustes,
der den Propheten völlig fremd ist, die aber Analogien in der weisheitlichen
Vorstellung hat, dass alles menschliche Tun "seine Zeit" hat.
Otto Plöger u.a. haben dieser These widersprochen. Der Ursprung der Apokalyptik
sei in einem Kreis von Visionären zu suchen, der auf die Sammlung einer
neuen Heilsgemeinde hoffte, zu der nur die Auserwählten des empirischen
Israel gehören sollten (Tritojesaja, Jes 24-27, Sach 12-14). Mit ihrer
Eschatologie habe diese Gruppe in einem Konflikt gestanden zur theokratisch
eingestellten Jerusalemer Priesterschaft, die in der Wiedererrichtung des Tempels
das endgültige Ziel der Heilsgeschichte gesehen haben (Theokratie u. Eschatologie).
Die Übereinstimmungen zwischen Apokalyptik und Prophetie sind z.B. der
Empfang von Offenbarungen durch Visionen und Auditionen, die zentrale Bedeutung
von Gottes- und Messiasherrschaft, des Gerichts über Israel und die Völker,
sowie die Rettung oder Zerstörung Jerusalems.
Freilich muss man mit einer Weiterentwicklung der Prophetie in der Apokalyptik
rechnen. Das wird an mehreren Punkten deutlich:
Beide verkündigen den kommenden Gott, in der Apokalyptik ist aber der Bruch
zwischen Gegenwart und Zukunft stärker als in der Prophetie. Beide sind
in ihrer Botschaft ihrer Zeitsituation verhaftet, wenngleich die Apokalyptik
diesen Zeitbezug oft in der Pseudonymität verbirgt. Doch finden sich bereits
in den Prophetenbüchern Zusätze späterer Bearbeiter, die die
Botschaft ihrer Vorgänger aufnahmen und umgestalteten. Darin spricht sich
ein verändertes Traditionsverständnis aus: Das eigene Wort wird ausgesagt,
indem man ein fremdes Wort auslegt. Das Thema der apokalyptischen Verkündigung
ist die Zukunft, die in Visionen lebhafter ausgemalt wird als in der Prophetie.
Apokalyptischer Geschichtsdeterminismus kann als Weiterführung der prophetische
Auffassung von einem Weltenplan Gottes verstanden werden. In der Apokalyptik
wird das Gerichts an Israel (und der Nachbarvölker) ausgeweitet auf alle
Völker, ja den ganzen Kosmos. Man kann von einer Generalisierung des Historischen
sprechen, das Individuelle gewinnt hier universalen Charakter.
Eines der wichtigsten inhaltlichen Charakteristika der Apokalyptik ist der
Dualismus, der ein mehrfacher ist: Zunächst gibt es einen kosmischen Dualismus,
bei dem die göttliche und die irdische Macht zu einander ausschließenden
Größen werden. Dieser Zwiespalt ist oft Ausdruck der Diskrepanz zwischen
autonom scheinender Weltmacht und dem Glauben an die Königsherrschaft Gottes.
Der Gegensatz zwischen Gottes- und Menschenherrschaft wird vorwiegend als zeitlich
verstanden. Gegenwärtiger und kommender Äon stehen einander als grundverschiedene
Epochen gegenüber. Doch kann an die Stelle des Gegensatzes von jetzt und
einst auch der Kontrast von oben und unten treten. Im Himmel sind die künftigen
Heilsgüter schon vorabgebildet. Wenn dem Zeitenwechsel die Gegenüberstellung
von gut und böse entspricht, liegt ein ethischer Dualismus vor: Gott wird
zunehmend das Gute vorbehalten, das Böse wird in einer persönlichen
Macht, dem Satan, zusammengefasst. Hier scheinen persische Einflüsse auf
das Judentum vorzuliegen. Das selbe gilt für die aufkommende Vorstellung
von einer künftigen, individuellen Auferstehung der Toten. In Zeiten der
Bedrängnis wird so der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Gott denen, die
an ihn glauben, die Treue über den Tod hinaus bewährt.
Bildernachweis
(C) Dr. Stefan Meißner: Straßburger Münster, Südportal-
Mail: stefanmeissner@gmx.net