Die Geschichte Israels

von Stefan Meißner

17. Israel in exilisch-nachexilischer Zeit


Zikkurat von Babylon - Modell Pergamonmuseum, Berlin

Literatur
W. Dietrich u.a. (Hg.): Biblische Enzyklopädie, 12 Bde., Bd.5, Die Königreiche Israel und Juda im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr.: Bd. 5
Rainer Albertz: Grundrisse zum Alten Testament, Bd.8/2, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit: Vom Exil bis zu den Makkabäern: Bd. 8/2 2. Aufl. Göttingen 1992
Rainer Albertz: Biblische Enzyklopädie, Bd.7, Die Exilszeit: 6. Jahrhundert v. Chr: Bd. 7
H. Donner: Geschichte Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen, Bd.2, S. 414ff.;
Markus Sasse: Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels, 2. Aufl. 2009

17.1 Die Quellen

Zu den wichtigsten Quellen über das babyonische Exil und die Restauration danach gehören die Propheten Ezechiel und Deuterojesaja, die selbst zu den Verbannten im Zweistromland gehörten. Wertvolle Informationen tragen auch die kleinen Propheten Haggai, Sacharia und Maleachi bei. Die Priesterschrift, eine der Quellenschriften bzw. Bearbeitungsschichten des Pentateuch, scheint ebenfalls in der Verbannung entstanden zu sein.

Etwa gleichzeitig wurde in der palästinischen Heimat das DtrG fertig gestellt, was zeigt, dass auch dort die Katastrophe von 587 zu einer theologischen Neubesinnung geführt hatte. Das ebenfalls aus Palästina stammende chronistische Geschichtswerk (ChrG) ist über weite Strecken vom DtrG abhängig, sodass sein Quellenwert begrenzt ist. Dieses Geschichtswerk, das eine Art schriftgelehrte Neuinterpretation der Bücher Samuel und Könige darstellt, zeigt ein ausgeprägtes Interesse an kultischen Fragen und dem davidischen Königtum. Diese Tendenz ist bei der Auswertung der Chronikbücher zu berücksichtigen. Neben 1+2 Chr sind noch die Bücher Esra und Nehemia zu nennen, die v.a. für die Perserzeit interessant sind. Ob diese beiden Bücher, die ursprünglich einmal zusammen gehörten, auch ein Teil des Chronistischen Geschichtswerks sind (so früher im Gefolge von M.Noth), ist fraglich. Heute überwiegen eher die Zweifel an der Zusammengehörigkeit der Chronikbücher mit Esr und Neh.

Empfohlene Literatur: Die Exilszeit

Die Zeit des Babylonischen Exils (597/587 - 520 v.Chr.) gehört zu den spannendsten Epochen der biblischen Geschichte. In ihr geriet Israel in seine wohl tiefste Krise, in ihr wurde aber auch der Grundstein für seine durchgreifendste Erneuerung gelegt. Neue Prophetenbücher wurden geschrieben und viele alte grundlegend redigiert . Angesichts des drohenden Abbruchs der Geschichte wurden erstmals größere Erzähl- und Geschichtswerke verfaßt (Vätergeschichte, Deuteronomistisches Geschichtswerk). (Auszug aus dem Klappentext)


17.2 Das Exil – eine Wasserscheide in der Geschichte Israels

Insgesamt darf man das 6. Jhd. als eine der kreativsten Perioden der jüdischen Literaturgeschichte ansehen. Diese Epoche brachte die unterschiedlichsten Denkansätze hervor, die nationale Katastrophe Israels zu deuten und zu überwinden. Dabei blieb ein Verständnis der Niederlage als Strafe Gottes, wie es die Propheten aber auch das DtrG vertreten hatten, die gemeinsame Grundlage aller Neuansätze. Die Niederlage bedeutete aber nicht, wie man oft bei christlichen Theologen zu lesen bekommt, dass die Geschichte Israels an ihr Ende gekommen sei und das Folgende nur noch ein Nachspiel (früher despektierlich „Spätjudentum“ genannt) sei.

Das babylonische Exil war, wenngleich kein Untergang, so doch ein epochaler Einschnitt in der Geschichte Israels. Es bedeutete das Ende der territorialen Einheit Israels. Oder umgekehrt formuliert: den Anfang des Diasporajudentums. Seit diesem Datum leben bedeutende Teile des jüdischen Volkes außerhalb ihrer angestammten Heimat Israel “in der Zerstreuung”. Diese Bevölkerungsteile entwickelten, jeweils beeinflusst durch die Kultur ihrer Umwelt, Spielarten von Judentum, die sich von der heimatlichen Ausprägung, aber auch untereinander teilweise erheblich voneinander unterschieden.

Während nach dem Ende der Eigenstaatlichkeit Israel als Staat und Nation für Jahrhunderte aufhörte zu existieren, überlebte es als Kultusgemeinde – freilich unter völlig neuen Vorzeichen. An die Stelle des zerstörten Jerusalemer Tempels und seiner Tieropfer treten eine Vielzahl von Synagogen, wo unblutige Formen der Gottesverehrung entwickelt werden. Aus dem Nationalgott Israels wird der Schöpfer des Himmels und der Erde, dessen Exklusivität man jetzt in der Begegnung mit anderen Religionen ganz besonders heraus stellt.

In der Literatur nennt man das aus diesen Brüchen neu hervor gegangene Gemeinwesen häufig „Judentum“, in Abgrenzung von der bisherigen Bezeichnung „Israel“. In der Tat werden die Bewohner des Gebirges Juda (hebr. Jeduha; die Gegend um die Metropole Jerusalem), von denen sich der Begriff Judentum letztlich ableitet, mehr und mehr zum geschichtstragenden Subjekt der biblischen Überlieferung, während die Bewohner des ehem. Nordreiches Israel nur mehr am Rande der Geschichte stehen. Man darf allerdings nicht übersehen, dass auch nach dem Untergang des Nordreiches „Israel“ nie aufhörte, als religiöser Ehrentitel eine Rolle zu spielen. Noch die Rabbinen sprechen voller Anerkennung von den Juden als „Söhne Israels“ (bene jisrael). Außerdem macht der Begriff „jehud“ erst allmählich einen Wandel durch von dem primär geographischen Begriff „Judäer“ hin zu dem stärker religiös konnotierten „Jude“ (vgl. Markus Sasse, S.2ff.)


17.3 Die Lage im Exil


" An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten."
Darstellung eines Motivs aus Ps 137 von Eduard Bendemann, um 1832

Die Verschleppung der Juden ins babylonische Exil geschah in mehreren Wellen:
Schon bei der ersten Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezzar 587v.Chr. wurden Teile der Bevölkerung in das Zweistromland hinweg geführt. Die zweite Deportationswelle ergoss sich 587/586 nach Osten. Auch nach der Ermordung des babylonischen Statthalters Gedalja (582 v.Chr.) durch jüdische Fanatiker (siehe unten) wurden Angehörige der jüdischen Oberschicht nach Babylonien umgesiedelt.

Wie viele Juden nach Babylonien deportiert wurden, ist schwer zu ermitteln. Das 2. Königsbuch vermittelt, den Eindruck, dass nur die Armen die im Land verblieben sind:

„Und er führte weg das ganze Jerusalem, alle Obersten, alle Kriegsleute, zehntausend Gefangene und alle Zimmerleute und alle Schmiede und ließ nichts übrig als geringes Volk des Landes. Und er führte weg nach Babel Jojachin und die Mutter des Königs, die Frauen des Königs und seine Kämmerer; dazu die Mächtigen im Lande führte er auch gefangen von Jerusalem nach Babel. Und von den besten Leuten siebentausend und von den Zimmerleuten und Schmieden tausend, lauter starke Kriegsmänner, die brachte der König von Babel gefangen nach Babel.“ (2 Kön 24,14-16)

Inwieweit die genannte Zahl von 10.000 Deportierten zutrifft, ist umstritten. Manche Ausleger vermuten, es handle sich dabei um Familienoberhäupter, so dass die Gesamtzahl wesentlich höher zu veranschlagen wäre. Jer 52,28-30 berichtet (im Blick auf die zweite Deportationswelle) von nur 4600 verbannten Judäern.

Historisch unzutreffend ist jedenfalls die Darstellung des Chronisten, der schreibt, der babylonische König habe alle hinweggeführt, „die das Schwert übriggelassen hatte“ (2 Chr 36,20). Das ist sicher übertrieben und soll den Eindruck vermitteln, dass das Land nach der Deportation menschenleer gewesen ist. Hier war das theologische Anliegen leitend, den Führungsanspruch der späteren Rückkehrer aus dem Exil zu legitimieren. Wenn das Land leer war, - so die Logik - kann es konkurrierende Ansprüche ja gar nicht geben.

Von den Exilanten wissen wir, dass sie im Zweistromland als halbfreie Ackerpächter in geschlossenen jüdischen Kolonien angesiedelt wurden. Ihre Situation war keineswegs so verzweifelt, wie man sich das vorstellen mag. Soweit wir wissen, mussten sie keine Frondienste leisten. Auch legten es die Babylonier (anders als zuvor die Assyrer) nicht darauf an, dass die deportierten Volksgruppen in der einheimischen Bevölkerung aufgingen. Sie konnten offensichtlich im Gegenteil ungehindert ihre Religion ausüben, viele gelangten in Babylonien sogar zu bescheidenem Wohlstand. Die Kommunikation untereinander und mit dem palästinischen Mutterland schien gut gewesen zu sein. Das zeigt u.a. ein Brief, den Jeremia an die Exilsgemeinde schrieb (Jer 29).

Das Leiden der Verbannten war eher ein inneres Leiden an einem Leben in einem unreinen Land, in dem ein legitimer Jahwe-Kult unmöglich war. Ergreifend wie kaum ein anderes Dokument fasst Ps 137 den Kummer der Israeliten in der Fremde in Worte:

„An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande. Denn die uns gefangen hielten, hießen uns dort singen und in unserm Heulen fröhlich sein: «Singet uns ein Lied von Zion!» Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande? Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. (Ps 137,1-6)

Sichtbare Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Gottes wie Sabbat, Speisegebote und Beschneidung werden zunehmend zu wichtigen Identitätskennzeichen. Sie werden nicht nur in Babylonien, sondern auch später in der Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur zum Symbol der Zusammengehörigkeit des Juden in aller Welt (vgl. Markus Sasse, S. 30ff.)


17.4 Die Situation im Land

Über die Zustände im Land informieren uns neben den oben bereits genannten Quellen der Prophet Jeremia und die traditionell ihm auch zugeschriebenen Klagelieder (Threni).

Wie wir aus 2 Kön 25,22-26 und Jer 40,5 - 41,3 wissen, setzten die Babylonier in Palästina einen in Mizpa (12 km nördlich von Jerusalem) residierenden Statthalters Namens Gedalja ein. Dieser Gedalja, der ein Enkel von Josias Schreiber Schafan war, ordnete eine Landreform an, wonach das Land denen gehören sollte, die es gerade bewirtschafteten. Diese Maßnahme zielte auf eine Normalisierung der Zustände im Land und sollte jenen Rechtssicherheit geben, die mit ihrer Hände Arbeit die Versorgung der Bevölkerung sicher stellten.

In Jeremia 40,9b.10 macht Gedalja den daheim Gebliebenen, aber auch jenen, die in die Nachbarregionen geflohen und nun zurück gekommen waren, Mut mit den Worten:

„Fürchtet euch nicht, den Chaldäern [= Babyloniern] untertan zu sein; bleibt im Lande und seid dem König von Babel untertan, so wird's euch wohl gehen. Siehe, ich bleibe hier in Mizpa und habe die Verantwortung vor den Chaldäern, die zu uns kommen; ihr aber sollt Wein und Feigen und Öl ernten und in eure Gefäße tun und sollt in euren Städten wohnen, die ihr wieder in Besitz genommen habt.“

Diese Worte dürften von der verarmten bäuerlichen Bevölkerung dankbar aufgenommen worden sein. Sie hatten mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wiederholt ist sogar von Kanibalismus in Jerusalem die Rede (Klgl 1,11, 2,12.20; 4,4.10). Tatsächlich kam es zu einer langsamen Erholung der Wirtschaft, was auch durch die archäologischen Befunde bestätigt wird (vgl. Rainer Albertz: Grundrisse zum Alten Testament, Bd.8/2, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit: Vom Exil bis zu den Makkabäern: Bd. 8/2 2. Aufl. Göttingen 1992 S. 378, Anm. 12).

Andererseits musste Gedaljas Erlass den Widerstand derjenigen auf den Plan rufen, die dadurch ihren Grundbesitz verloren. Ihr Protest verdichtet sich in Worten des Propheten Ezechiel, wenn er im Namen der ehemaligen Jerusalemer Oberschicht verkündet: „Abraham war ein einzelner Mann und nahm dies Land in Besitz; wir aber sind viele, so gehört uns das Land erst recht. (Ez 33,24, vgl. auch 11,15).

Der Statthalter Gedalja wurde, wie schon kurz angedeutet, von Fanatikern um einem gewissen Ismael ben Nethanja ermordet. Offensichtlich hielten die Mörder, die Verbindungen zum jüdischen Königshaus hatten, ihn für einen Kollaborateur. Es mag auch sein, dass der König von Ammon ein Interesse hatte, Gedalja aus dem Weg zu schaffen (vgl. Jer 40,14). Jedenfalls flohen die Mörder nach Ägypten und nahmen dabei (gegen seinen Willen) den Prophet Jeremia mit, dessen Spur sich in der ägyptischen Diaspora verliert.

Das Gedalja-Fasten
Nach talmudischer Überlieferung wurde Gedalja am 3. Tag des jüdischen Monats Tischri, also am dritten Tag des jüdischen Jahres, ermordet. Fromme Juden nehmen an diesem Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang keine Speisen zu sich (sog. „Gedalja-Fasten“). In den Synagogen werden besondere Schriftstellen verlesen, aber der Tag ist kein offizieller Feiertag.

Judäa wurde unter den Babyloniern an die Provinz Samaria angegliedert, der Süden wurde (bereits 598 oder erst später?) abgetrennt und an Edom gegeben (vgl. Am 1,11ff.; Ob 19; Ez 35,10; 36,5). Die fruchtbare Schefela ging an die Phönizier und Philister verloren (Ob 19; Ez 26,2) und Gilead an die Ammoniter (Jer 49,1).

Es war ein gewaltiger Aderlass, den der Landstrich um Jerusalem in personeller, wirtschaftlicher und territorialer Hinsicht in den Jahren nach 587 zu erleiden hatte. Seine Lage besserte sich erst wieder, als die Perser 539 v.Chr. dem neubabylonischen Großreich ein Ende setzten und nun selbst zur alles bestimmenden Großmacht im vorderen Orient aufstiegen.

Externer Link
http://www.uni-duisburg-essen.de (Auszug aus Martin Metzgers Geschichte Israels)

Bildernachweis
Zikkurat: Stefan Meißner, Pergamon-Museum, Berlin
Bendemann: Stefan Meißner, Jüd. Museum, Frankfurt